Rubrik: Neue Inhalte

03. September 2025

Peter Engel
Seite an Seite mit Walter Benjamin – Nachruf auf Ernst Weiß im New Yorker „Aufbau“

Obwohl sie gemeinsame Bekannte und Interessen hatten, beide ihre Exiljahre während des „Dritten Reiches“ überwiegend in Paris verbrachten und vor 1933 ihr Lebensmittelpunkt Berlin gewesen war, scheinen sich der Philosoph Walter Benjamin und der Romancier Ernst Weiß gegenseitig nicht wahrgenommen zu haben. Dafür hat sich jedenfalls bisher keine dokumentarische Spur finden lassen, was auch deshalb etwas verwunderlich ist, weil beide – um nur das zu sagen – von Franz Kafka und seinem Schaffen fasziniert waren und darüber erhellend geschrieben haben, weil zudem beide früh Werke von Marcel Proust für Berliner Verlage übersetzten. Diese starken Berührungspunkte reichten aber offensichtlich nicht aus, um eine Beziehung zwischen Ernst Weiß und Walter Benjamin zu stiften.

Peter Engel <br />Seite an Seite mit Walter Benjamin – Nachruf auf Ernst Weiß im New Yorker „Aufbau“

Tatsächlich wird der Philosoph in den mir zugänglichen Texten von Weiß nirgends erwähnt, nicht einmal in den drei Schreiben an Siegfried Kracauer, den sehr guten Freund Benjamins. Auf der anderen Seite konnte in den Beständen des Benjamin-Archivs, das die Berliner Akademie der Künste betreut, nicht der geringste Hinweis auf den Schriftsteller ermittelt werden, wie mir die zuständige Bearbeiterin Ursula Marx mitteilte,

Während ihrer Pariser Zeit mußten sich beide Emigranten sehr mühsam durchschlagen, und als Hitler-Deutschland auch in Frankreich einfiel, wußten sie nur zu genau, was Ihnen als Juden bei einem Verbleiben in der französischen Hauptstadt drohte. Ernst Weiß hatte die Energie zur Flucht nicht mehr und legte beim Herannahen der Wehrmacht Hand an sich, starb am 15. Juni 1940. Benjamin war noch rechtzeitig geflohen und schlug sich in den folgenden Wochen bis zur spanischen Grenze durch, wo die Beamten ihn jedoch zurückwiesen und nicht passieren ließen. Er befürchtete eine Auslieferung an die Deutschen, suchte das Hotel Francia de Portbou auf und entleibte sich dort selbst in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940.

Diese beiden Selbstmorde findet man in der Literatur über die deutschsprachige Emigration während des „Dritten Reiches“ häufig verzeichnet, ohne daß dabei die Todesfälle in eine inhaltliche Nähe zueinander gebracht werden. Es gibt aber ein Dokument, in dem die beiden Opfer des nationalsozialistischen Wütens Seite an Seite gewürdigt werden: In der New Yorker Emigrantenzeitung „Aufbau“ fanden die Leser am 18. Oktober 1940 auf der Titelseite Nachrufe auf Walter Benjamin und Ernst Weiß, und dort waren die beiden, die im Leben trotz vieler Gelegenheiten offenbar nicht zueinander gefunden hatten, nun im Tode gewissermaßen vereint, denn ihre Nekrologe standen nebeneinander.

Während der bisher unbekannte Nachruf auf Weiß von einem Verfasser stammt, der seinen kenntnisreichen Text mit dem bisher nicht aufgeschlüsselten Kürzel V.W. zeichnete, hat den Nekrolog auf Benjamin mit bewegenden Worten Theodor W. Adorno verfaßt, der dem Philosophen sehr nahe stand. Sein ehrender Nachruf ist der Forschung bekannt, wie mir Michael Schwarz, der zuständige Mitarbeiter des Adorno-Archivs der Berliner Akademie der Künste mitteilte, er ist im Band 20 der „Gesammelten Schriften“ Adornos enthalten. Hingegen wird der Nachruf auf Ernst Weiß hier nach seinem Erstdruck im „Aufbau“ wieder erstmals wieder zugänglich gemacht.

03.09.2025     Rubrik: Neue Inhalte

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