Rubrik: Interview
01. Dezember 2022
Interview: Drei “Hebel” zur Wiederentdeckung von Ernst Weiß
Peter Engel hat Anfang der Achtzigerjahre zusammen mit Volker Michels die Gesammelten Werke von Ernst Weiß herausgegeben und lange Jahre die "Weiß-Blätter herausgebracht. Im Interview berichtet er, wie seine Beschäftigung mit Ernst Weiß verlaufen ist und nennt drei "Hebel", die Ernst Weiß wieder in den Fokus des öffentlichen Interesses rücken könnten.
EWP: Wann wurde Ihr Interesse an Ernst Weiß und seinem Werk entfacht?
Peter Engel: Auf den Schriftsteller stieß ich während des Studiums in den Tagebüchern Kafkas, über den ich damals arbeiten wollte. Aber das hatten schon allzu viele vor mir getan, weshalb ich mich dann intensiver mit Ernst Weiß befaßte. Aber die besondere Faszination durch Kafkas Werk blieb bestehen und sie war auch immer im Hintergrund dabei, als ich die Bücher von Weiß nach und nach las und die Erstausgaben - bis auf eine Ausnahme - sämtlich erwarb. Und auch die angebliche Freundschaft zwischen den beiden Schriftstellern interessierte mich anhaltend und hat zu meinen entsprechenden Deutungsversuchen geführt - das Thema ist für mich noch nicht abgeschlossen.
EWP: Was hat Sie anfänglich und in der Folge an seiner Person und seinem Werk beeindruckt oder fasziniert?
Peter Engel: Ernst Weiß ist mir im Laufe der Beschäftigung mit ihm als Person nicht sympathischer geworden, um ganz offen zu sein. Aber das muß kein entscheidender Punkt sein, um sich auf das Schaffen eines Autors einzulassen. Ich tat das ja auch im Zuge allgemeinerer Bestrebungen in der Bundesrepublik, die während des "Dritten Reiches" emigierten und vergessenen Schriftsteller wieder zu entdecken und sie gewissermaßen in die deutsche Literatur erneut einzubürgern, aus der sie die Nazis ausgestoßen hatten. Dieser Aspekt hatte auch für mich große Bedeutung und führte dann zu meinen entsprechenden Aktivitäten.
EWP: 1973 starteten Sie mit der ersten Ausgabe der Weiß-Blätter. Wie kam es dazu?
Peter Engel: Mir war schnell klar geworden, daß ich mich der Mithilfe anderer versichern mußte, um Interesse für das Schaffen von Ernst Weiß zu wecken. Ich wollte in diesem zunächst improvisierten Publikationsorgan die wenigen Forscher versammeln, die damals etwas über den Schriftsteller publiziert hatten, und ihren Austausch untereinander befördern. Ein weiteres Ziel war es, die verstreuen Lebensspuren des Schriftstellers zu sichern, Bildmaterial zu finden und weitere Nachforschungen anzuregen.
EWP: In der ersten Folge der "Weiß-Blätter" sind zwischen 1973 und 1978 fünf Nummern und eine Doppelausgabe erschienen. Was konnte in den fünf Jahren über den Schriftsteller Ernst Weiß, über sein Umfeld und sein Werk geklärt werden und welche Forschungsfragen rückten in den Fokus?
Peter Engel: Das waren ja zunächst eher bescheidene Erträge, aber in der zweiten Ausgabe der "Weiß-Blätter" vom August 1973 konnte ich Auszüge aus einem Brief von Ingeborg Wellenstein, der Witwe des Berliner Malers Walter Wellenstein, veröffentlichen, die 1927 als Sekretärin für Weiß gearbeitet hatte und ihm bei der Übersetzung des Daudet-Romans "Tartarin von Tarascon" half. Die neue Übertragung erschien dann im Folgejahr in der Deutschen Buch Gemeinschaft. Von Frau Wellenstein konnte ich später eine Weiß darstellende Zeichnung aus dem Nachlaß ihres Mannes erwerben, und vor einiger Zeit gelang mir der Kauf eines Selbstbildnis-Olgemäldes von Walter Wellenstein.
"So kamen nach und nach kleine Bausteine hinzu wie wertvolle Erinnerungen an Weiß von Soma Morgenstern."
Im Juni 1974 veröffentlichte ich in der dritten Nummer der kleinen Zeitschrift die Erinnerungen des Schriftstellers Friedrich Walter an Weiß und vom Autor selbst das Einleitungskapitel zu der Erzählung "Die Herznaht", dazu Briefe von ihm aus der Pariser Exilzeit. So kamen nach und nach kleine Bausteine hinzu wie wertvolle Erinnerungen an Weiß von Soma Morgenstern oder Axel Eggebrecht, aber auch Beiträge über Rahel Sanzara, die langjährige Gefährtin des Schriftstellers. Nicht unwichtig war auch die Rubrik "Mitteilungen" in einigen Ausgaben, worin über einschlägige neue Erkenntnisse informiert wurde.
EWP: Wie sind Sie an die Informationen, Zeitzeugenaussagen und Dokumente gekommen, die in den Weiß-Blättern erschienen sind? Was war besonders bemerkenswert in diesen Jahren der Recherche und des Austausches?
Peter Engel: Damals war es noch deutlich mühsamer als in den heutigen Tagen des Internets, zum Beispiel an Anschriften von Forschern heranzukommen, die sich mit Weiß beschäftigten. Ich habe einen regen Briefwechsel geführt, so daß sich allmählich ein Netzwerk bildete. Wenn ich weiterführende Antworten erhielt, wurden die häufig Anlaß für Nachfragen, um bestimmte Sachverhalte noch präziser zu klären. Ich stieß dabei auf viel Unterstützung und viel guten Willen, sonst hätte ich mit der Arbeit anden "Weiß-Blättern" gar nicht weitermachen können. Einmal schickte mir der Verleger Hermann Kreißelmeier, bei dem 1963 der nachgelassene Weiß-Roman "Der Augenzeuge" zuerst erschien, sogar 100 Mark, um meine Arbeit zu fördern.
EWP: Gute fünf Jahre später erschien im Rigodon-Verlag eine neue neue Folge der "Weiß-Blätter", die erste Nummer im November 1983, die sie zusammen mit Sven Spieker herausgaben. Was hat Sie zu diesem Neustart bewegt und wie stieß Sven Spieker dazu?
Peter Engel: Die neue Folge der "Weiß-Blätter" war auch eine Reaktion auf die 1982 in 16 Bänden erschienene Weiß-Werkausgabe bei Suhrkamp. Diese Edition, die sehr gut besprochen, aber weniger gut verkauft wurde, hatte tatsächlich einen Boom in der Forschung zur Folge. Das Interesse an dem ziemlich vergessenen Autor wurde insbesondere an den Universitäten unter den Literaturwissenschaftlern geweckt, weil damit ja die Texte erstmals in großem Umfang und in einheitlicher Ausstattung wieder vorlagen. Abgesehen von zwei Publikationsversuchen in West und Ost waren die Werke von Weiß zuvor nur antiquarisch greifbar gewesen.

Aufgrund der Suhrkamp-Edition entstanden mehrere Dissertationen und Examensarbeiten. Und es gab auch für die neue Folge der "Weiß-Blätter" jüngere Forscher, die sich auf noch nicht bearbeitete Themen einließen. Vor allem bot der junge Sven Spieker, damals noch in Bonn lebend, seine Hilfe an und wurde zum Mitherausgeber der Zeitschrift. Die bekam in Norbert Wehr, dem bis heute tätigen Herausgeber der Literaturzeitschrift "Schreibheft", auch einen richtigen Verleger und sah fortan recht nobel aus. Auf der Titelseite jeder Ausgabe prangte ein anderes Weiß-Bild, mal Fotografien, mal Zeichnungen oder Karikaturen.
EWP: Insgesamt sind zwischen 1983 und 1989 elf Ausgaben der "Weiß-Blätter" erschienen. Was haben diese Ausgaben zur Forschung beigetragen?
Peter Engel: Ein Hauptgewinn war die Fortschreibung der Weiß-Bibliographie von Klaus-Peter Hinze, die 1977 im Verlag der "Weiß-Blätter" erschien und ergänzungsbedürftig war. Das übernahm Gregor Ackermann, der in fünf Ausgaben seine wertvollen Funde in diversen Zeitungen und Zeitschriften mitteilte. Auch die substantiellen Beiträge von Literaturwissenschaftlern wie Thomas Delfmann, Dieter Sudhoff, Josef Quack, Aurelia Zanetti und Juliane von Zezschwitz waren ein Gewinn für die Forschung.
EWP: Wenn ich das richtig wahrgenommen habe, ist nach dem Erscheinen des Symposiums-Bandes "Ernst Weiß - Seelenanalytiker und Erzähler von europäischem Rang" von 1992 die Ernst-Weiß-Forschung mehr oder weniger zum Erliegen gekommen. Wie sehen Sie das? Warum ging es nicht weiter mit neuem Elan?
Peter Engel: Dafür habe ich keine richtige Erklärung, es wird vermutlich mehrere Gründe für das neuerliche Desinteresse an Ernst Weiß nach dem Erscheinen des genannten Bandes geben. Ein Ursache kann gewesen sein, daß der Suhrkamp Verlag selbst damals sein Engagement für den Schriftsteller nicht entschieden fortsetzte. Mit einer Briefausgabe etwa, noch mehr vielleicht mit einer Weiß-Biographie wäre wohl neues Interesse für den Schriftsteller zu wecken gewesen, beides kam nicht zustande.
EWP: Die fünf Jahre, in denen keine "Weiß-Blätter" erschienen, fehlte Ihnen, vermute ich, schlicht die Zeit für eine Weiterführung der Zeitschrift, da Sie zum 100. Geburtstag von Ernst Weiß die "Gesammelten Werke" in 16 Bänden vorbereiteten, die 1982 im Suhrkamp Verlag erschienen. Zum ersten Male lagen alle Romane, die meisten Erzählungen und eine umfangreiche Sammlung an Essays und Rezensionen vor. Des weiteren gaben Sie einen Materialienband mit zeitgenössischen Dokumenten über Ernst Weiß und seine Werke heraus. Ein Meilenstein! Wie haben Sie Suhrkamp überzeugt und was waren die Haupthindernisse bei der Realisierung?
Peter Engel: Ohne Volker Michels Interesse an Ernst Weiß und ohne seine entsprechenden Einwirkung auf den Verleger Siegfried Unseld wäre es nie zu der umfassenden Edition gekommen. Als sehr erfolgreicher Herausgeber der Werke von Hermann Hesse hatte der Lektor eine starke Stellung im Suhrkamp Verlag und hat die tatsächlich dafür genutzt, die Weiß-Ausgabe durchzudrücken, nachdem er entsprechende Überzeugungsarbeit geleistet hatte. Ich selbst hätte das allein nie vermocht.
EWP: Gibt es neue Anläufe zu einer Ernst-Weiß-Biographie? Welche Fragen wären aus Ihrer Sicht die herausfordernsten, die sich der Biograph oder die Biographin stellen müßten?
Peter Engel: Ein Weiß-Biograph kann heute keine Zeugen mehr befragen, die den Autor noch selbst erlebt haben, diese Chance ist dahin. Er muß sich also mit dem begnügen, was andere an einschlägigem Material ermittelt haben. Was er zu liefern hätte, wäre vor allem eine überzeugende Deutung des Werks und der Nachweis, daß es der Schriftsteller verdient hat, der neuerlichen Vergessenheit deshalb entrissen zu werden, weil er auch den Heutigen noch etwas Bedeutendes zu sagen hat.
"Ein Weiß-Biograph kann heute keine Zeugen mehr befragen."
EWP: Sie haben viele Kopien von Briefen des Autors Ernst Weiß zusammengetragen, woran ist eine Veröffentlichung dieser Korrespondenz bisher gescheitert?
Peter Engel: Weil das von mir ermittelte Material vermutlich nicht vollständig den erhaltenen Bestand wiedergibt, also noch weiter in Archiven und anderswo recherchiert werden müßte, um eine bessere Grundlage für eine Edition zu gewinnen. Auch hat es – außer meinem stecken gebliebenen Versuch – bisher keinen ernsthaften Anlauf zur Erarbeitung und Publikation einer Briefausgabe gegeben, jedenfalls ist mir nichts in dieser Richtung bekannt.
EWP: Sie sagten mir, es gäbe drei Themen, mit denen für Ernst Weiß und sein Werk auch heute wieder Interesse geweckt werden könnte: Seine Freundschaft mit Franz Kafka, der Hitler-Bezug in dem Weiß-Roman "Der Augenzeuge" und die Tatsache, daß Weiß ausgebildeter Arzt war, was sich in vielen seiner Romane sogar bis in den Titel hinein ("Der Gefängnisarzt") spiegelt. Haben Sie Ideen und Vorschläge wie man das jeweils angehen könnte?
Peter Engel: Es gibt in der Tat drei mächtige Hebel, wie ich sie einmal nennen möchte, mit deren Hilfe das Schaffen von Ernst Weiß auch für ein größeres Publikum besser aufzuschließen wäre. Da ist zunächst einmal das Verhältnis zu Franz Kafka. Weiß war als Freund zwar nicht gewissermaßen der Schiller für Kafka, aber es gab doch viel Verbindendes zwischen beiden Schriftstellern, das über ihr gemeinsames Judentum hinausging. Das Trennende ist allerdings auch ersichtlich. Wenn beide Aspekte deutlicher als bisher beleuchtet würden, fiele auch neues Licht auf Ernst Weiß, würde er klarer konturiert erscheinen.
"Darin wird die Entdämonisierung eines skrupellosen Gewaltmenschen vom Schlage Hitlers versucht."
Ein weiterer Hebel zum Aufbrechen der neuerlichen Vergessenheit unseres Autors wäre eine intensive Beschäftigung mit seinem nachgelassenen Roman "Der Augenzeuge". Darin wird ja die Entdämonisierung eines skrupellosen Gewaltmenschen vom Schlage Hitlers versucht, und tatsächlich hat man sich den Diktator immer als Hintergrundfigur für diese romanhafte Nachzeichnung vorzustellen. Da wir gerade wieder auf die erschreckendste Weise von so einer politischen Figur dämonischen Zuschnitts heimgesucht werden, ich muß den üblen Namen wohl nicht eigens nennen, liegt eigentlich nichts näher, als die Analyse einer solchen Schreckensgestalt nachzulesen, wie sie Ernst Weiß im "Augenzeugen" vorgenommen hat.

Als drittes Element schließlich wird das Medizinische in vielen der Romane von Weiß thematisiert, es geht darin in einem emphatischen Sinne um Heilungsversuche durch ärztliche Spezialisten, wie er ja selbst einer gewesen ist, ehe er sich ganz dem Schreiben widmete. In ziemlich heilloser Zeit brauchen wir, vielleicht mehr denn je, die besten Seelenärzte, wenn die Seuchen körperlicher und geistiger Art, die unsere Epoche bestimmen, wirkungsvoll und möglichst dauerhaft bekämpft werden sollen. Als so ein Seelenarzt könnte der Schriftsteller Ernst Weiß mit seinen Romandiagnosen wahrgenommen werden, insbesondere mit seinen tiefen Einblicken in die "Unterseele" des Menschen, wie er es im "Augenzeugen" tat. Wenn die drei genannten "Hebel" in geeigneter Weise angesetzt werden, sehe ich eine Chance dafür, das Schaffen von Ernst Weiß für unsere Gegenwart neu aufzuschließen und fruchbar zu machen.
EWP: Vielen Dank.
Peter Engel

Geboren 1940 in Eutin (Schleswig-Holstein). Studium der Germanistik und Anglistik in Hamburg und Heidelberg. Abschluß mit dem Staatsexamen. Arbeitete viele Jahre als Kulturredakteur einer Nachrichtenagentur, seitdem freier Schriftsteller und Kunstkritiker. Mitinhaber des Verlags Angeli & Engel.
Peter Engel hat über 20 Jahre über Ernst Weiß geforscht und war in den siebziger und achtziger Jahren Herausgeber der Weiß-Blätter. 1982 war er zudem der Herausgeber der Gesammelte Werke von Ernst Weiß in 16 Bänden (Suhrkamp Verlag). Er besitzt zudem ein umfangreiches Ernst-Weiß-Archiv, in dem sich auch zahlreiche Briefe von Ernst Weiß und Originalausgaben der Weiß-Romane befinden.
01.12.2022 Rubrik: Interview