Rubrik: Neue InhalteRubrik: Ernst Weiß Werk
18. April 2023
Ein erfreulicher Fund: Ernst Weiß zu Hesses “Roßhalde”
Im folgenden Text schreibt Volker Michels über eine Rezension von Ernst Weiß, in der letzterer die Erzählung "Roßhalde" von Hermann Hesse bespricht. Sie erschien am 1. Mai 1914 in der National Zeitung (Berlin, 67. Jg., Nr. 101).
Volker Michels ist Herausgeber der Werke Hermann Hesses im Suhrkamp Verlag sowie Mitherausgeber der Gesammelten Werke von Ernst Weiß. Er war viele Jahre Lektor bei Suhrkamp und hat sich dort um viele mehr oder minder vergessene Schriftsteller verdient gemacht.
Ernst Weiß zu Hesses „Roßhalde“ - Ein erfreulicher Fund
von Volker Michels
Als wir 1980 zum bevorstehenden 100. Geburtstag von Ernst Weiß im Jahr 1982 die Jubiläumsausgabe seiner „Gesammelten Werke“ konzipierten, waren uns für den abschließenden 16. Band mit seinen Essays, Aufsätzen und Schriften zur Literatur noch nicht alle seiner durchweg konstruktiven Würdigungen zeitgenössischer Neuerscheinungen ins Netz gegangen, was sich leider erst später herausstellte. Ein uns entgangener Text war seine am 1.5.1914 in der Berliner „National-Zeitung“ erschienene Empfehlung von Hermann Hesses zwei Monate zuvor bei S. Fischer publiziertem Roman „Roßhalde“. Es war das letzte seiner Frühwerke, die noch vor der auch für Hesse so folgenreichen Zäsur des Ersten Weltkriegs erschienen und steht mitten zwischen der idyllischeren Jugendperiode des Erzählers und den innovativen Entwicklungen, die bald darauf mit dem pseudonymen „Demian“ einsetzten.
„Roßhalde“, wie viele seiner autobiographisch fundierten und deshalb erstaunlich wirksamen Erzählungen, thematisiert die Frage, ob ein Künstler, der das Leben nicht nur instinktiv meistern will, sondern es möglichst objektiv zu betrachten und darzustellen beabsichtigt, überhaupt zur Ehe fähig ist. Diese damals für ihn selbst virulente Problematik hat Hesse in der Geschichte des Malers Johann Veraguth fiktionalisiert. Zu Recht weist Ernst Weiß in seiner Rezension darauf hin, dass Leser, die auf action und spannende Handlungsverläufe angewiesen sind, bei solch einem Thema nicht auf ihre Kosten kommen können. Zwar spitzt sich im Verlauf der zunehmenden Entfremdung der Ehepartner ihr Konflikt bis zum Tod des von beiden geliebten Söhnchens Pierre zu, aber die eigentliche Absonderung vollzieht sich in vielen undramatischen, doch prototypischen Episoden.
Die Befunde von Ernst Weiß decken sich vollauf mit Hesses eigener Einschätzung des Buches, als er es dreißig Jahre nach der Niederschrift anlässlich einer Neuausgabe erstmals wieder gelesen hatte. „Ich dachte darin eine Art Edelkitisch zu finden. Aber es war nicht so“, vermerkt er in einem Brief vom 15.1.1942 am Peter Suhrkamp. Es habe sich bewährt. Es stehe vieles darin, was „ich heute nicht mehr vermöchte. Damals mit diesem Buch hatte ich die mir mögliche Höhe an Handwerk und Technik erreicht und bin nie weiter darin gekommen. Dennoch hatte es ja seinen guten Sinn, dass der damalige Krieg mich aus der Entwicklung riss und mich, statt zum Meister guter Formen werden zu lassen, in eine Problematik hineinführte, vor der das rein Ästhetische sich nicht halten konnte.“
In seiner Besprechung trifft Ernst Weiß die Lebensnähe, Anschaulichkeit und den Gehalt dieser Erzählung ebenso sicher wie er das Charakteristische der Werke etwa von Thomas Mann, Franz Kafka, Joseph Roth, Stefan Zweig, Franz Werfel, Jack London, Hans Fallada oder Ernest Hemingway zu erspüren verstand. Hesse selbst, der verschiedentlich empfehlend auf die Bücher von Ernst Weiß hingewiesen hat, bezeichnete die Werke seines Kollegen als „Aufrichtigkeiten und Bekenntnisse eines Mannes, der die Krankheit unserer Zeit im Tiefsten kennt.“
18.04.2023 Rubrik: Neue Inhalte Ernst Weiß Werk