Rubrik: Ernst Weiß Werk

06. März 2023

Der doppelte Ernst Weiß – Korrektur eines Irrtums

Den drei Theaterstücken „Tanja“ (1920), „Olympia“ (1923) und „Leonore“ (1923) von Ernst Weiß hat Klaus-Peter Hinze in seiner dem Schriftsteller gewidmeten Bibliographie von 1977 auf Seite 50 als viertes dramatisches Werk noch die Komödie „Die kleine Heilige“ hinzugefügt. Er datiert dieses Werk ebenfalls auf das Jahr 1923 und nennt es zwar „verschollen“, fügt aber als quasi Existenzbeweis eine Besprechung des Stücks an, die in der Zeitschrift „Das literarische Echo“ auch tatsächlich veröffentlicht wurde. Es ist allerdings auch der einzige Hinweis, den er überhaupt anzugeben vermochte, während zu den Uraufführungen der anderen drei Theaterstücke von Weiß jeweils etliche Besprechungen aufgeführt sind. Allein schon dieser Umstand hätte den Literaturwissenschaftler stutzig machen und davon abhalten sollen, die Komödie überhaupt in sein Verzeichnis aufzunehmen.

Tatsächlich beruht die Nennung des Werks in der Weiß-Bibliographie auf einem Irrtum, wie ich jetzt bei der Überprüfung von Hinweisen feststellen konnte. Die verdanke ich dem Aachener Literaturwissenschaftler Gregor Ackermann, der in den „Weiß-Blättern“ kleine Teilbibliographien zum Werk des Schriftstellers veröffentlicht hat. Nun fand er heraus, daß das „Neue Wiener Journal“ am 5. April 1923 einen Beitrag mit dem Titel „Wie ich um meinen Namen kam“ (PDF) publizierte und daß einen Tag später die Tageszeitung „Die Stunde“ mit dem Artikel „Ernst Weiß und Ernst Weiß“ folgte: Beide Veröffentlichungen zusammen bringen nun endlich Licht in das Dunkel um die „Kleine Heilige“.

Der doppelte Ernst Weiß – Korrektur eines Irrtums

Was der Bibliograph Hinze nicht ahnte oder sich nicht vorstellen konnte, ist demnach jetzt Gewißheit: Im Jahr 1923 brachte ein zweiter Schriftsteller mit dem Namen Ernst Weiß ein dramatisches Werk zur Uraufführung, eben die Komödie „Die kleine Heilige“. In dem genannten Beitrag im „Neuen Wiener Journal“ bekennt sich dieser Autor als Verfasser des Stücks und verwahrt sich dagegen, daß ihm Zeitungen „täglich“ seinen Namen „vorwerfen“ wegen der Verwechslung mit dem „Berliner Schriftsteller Ernst Weiß“.

Das ist natürlich etwas gespielt naiv, denn der „zweite“ Ernst Weiß mußte ja eigentlich wissen, daß sich längst ein namensgleicher Autor in der damaligen deutschsprachigen Literaturszene etabliert hatte, seine Werke in den bedeutendsten Verlagen der Epoche herausbrachte und auch gebührende Beachtung in der Kritik und in der Leserschaft fand. Das nicht zu wissen im Jahr 1923, als von dem „Berliner“ Weiß nicht weniger als neun Werke bereits gedruckt vorlagen, ist selbst bei einem Anfänger wenig glaubhaft – er hat wohl eher auf die „Verwechslung“ spekuliert und sich davon etwas für sich selbst versprochen.

Daß es sich in Wahrheit so verhielt, wird durch das persönliche Schreiben hinreichend deutlich, das der „zweite“ Ernst Weiß an die Wiener Zeitung „Die Stunde“ richtete und das dort auch genau einen Tag nach der ersten Veröffentlichung im „Neuen Wiener Journal“ im Wortlaut publiziert wurde. In diesem Text erklärt er ausdrücklich, er habe den „Antrag auf Namensänderung“ durch den in der deutschen Hauptstadt lebenden Autor zunächst abgelehnt. Erst als die „Berliner, Prager und Wiener Blätter“ dann die „praktische, journalistische und juristische Bedeutung des Falles“ erörtert hätten, habe er sich „raschest“ zur Erledigung der Sache entschlossen, weil er seinen Namen nicht „auf diese Weise in die Öffentlichkeit gerückt zu sehen“ wünschte.


Abbildung: "Die Stunde" vom 4. Juni 2023


Ob der so rasche „Rückzug“ des Komödien-Verfassers wirklich den von ihm genannten Grund hatte oder nicht eher auf Druck einer Klageandrohung durch seinen Berliner Namensvetter erfolgte, ist zwar zu vermuten, läßt sich aber bisher nicht nachweisen. Jedenfalls gab der Jüngere schnell nach und unterzeichnete den Artikel im „Neuen Wiener Journal“ als Raoul Ernst Weissen. Das war jedoch nicht die endgültige Namensform, unter der dieser Schriftsteller auftrat, später nannte er sich Raoul Ernst Weiss, also ohne die zusätzlichen Buchstaben „en“ und mit „ss“, aber auch damit konnte er sich nicht wirklich einen Namen machen.

Es läßt sich überhaupt vergleichsweise sehr wenig über diesen Autor ermitteln, die üblichen Nachschlagewerke versagen. Verbürgt ist immerhin, daß seine Komödie „Die kleine Heilige“ tatsächlich am 1. März 1923 zur Eröffnung des Kleinen Lustspielhauses in Hamburg uraufgeführt wurde. Dieses neue Theaterhaus mit 350 Sitzplätzen war in den Großen Bleichen in der Hamburger Innenstadt eingerichtet worden, wo später das Ohnsorg Theater seine Spielstätte hatte und mit plattdeutschen Stücken für Unterhaltung der leichteren Art sorgte.

Nach der Uraufführung der „Kleinen Heiligen“ verlieren sich die Spuren des 1899 geborenen Raoul Ernst Weiss in der Alten Welt, aber in der Neuen tauchte er als „Dramaturg, Bühnenautor, Korrespondent, Schriftsteller“ wieder auf. Er war nämlich wegen der „Hitlerei“ ebenso emigriert wie der bekannte Schriftsteller Ernst Weiß, nur eben nicht nach Paris, sondern in die USA, wo er 1995 in Berkeley auch starb. Von den USA aus hatte im Jahr 1939 ein Hilferuf von Raoul Ernst Weiss den ebenfalls in Bedrängnis lebenden Robert Musil erreicht, der jedoch nicht viel für ihn tun konnte. Dem Kommentarteil der Ausgabe von Musils Briefen aus dem Jahr 1981 ist zu entnehmen, daß der „andere“ Ernst Weiß im National Union Catalogue von 1979 mit seinen Typoskripten „Intermezzo in Venedig (Drama)“ und „The Room of dreams (A comedy in three acts)“ verzeichnet ist - mehr war über diesen vergessenen Schriftsteller bisher nicht herauszufinden.

Autor: Peter Engel

06.03.2023     Rubrik: Ernst Weiß Werk

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